2.3 Verhalten von Ladungen unter äußeren Kräften


2.3.4 Dynamisches Verhalten

In den vorangegangenen Ausführungen zu Ladungsbewegungen wurde gesagt, dass ein gewisser Bewegungsspielraum von Ladungen toleriert werden kann und sogar günstig für die Ladungssicherung ist. Das ist aber nur in sehr engen Grenzen zulässig. Die folgenden Beispiele zeigen, wie gesicherte Ladung sich unter Einwirken von starken Trägheitskräften grundsätzlich verhält. Dabei wird deutlich, dass jede Ladungsbewegung oder Verformung dynamische Effekte auslöst, die mit den üblichen Bilanzrechnungen nicht erfasst werden.

Beispiele: 

Beispiel 1: Dieses Beispiel ist ein Gedankenexperiment, welches die prinzipiellen Vorgänge aufdecken und erläutern soll, aber nicht zur Nachahmung empfohlen wird. Mit einem Kipplaster wird eine Palette Ziegelsteine sowie mehrere Kubikmeter Sand zu zwei Baustellen gebracht. Der Sand soll auf der ersten Baustelle abgekippt werden. Damit die Palette nicht vorzeitig mit abrutscht, wird sie mit einem Zurrgurt zur Stirnwand der Ladefläche hin gesichert.


Abbildung - LSBH

Abbildung 2.11: Kipplaster mit gesicherter Palette in Beispiel 1 [H. Kaps]

Auf der ersten Baustelle angekommen wird der Sand über die geöffnete Rückklappe entladen. Bei einem Neigungswinkel der Ladefläche von ca. 25° reicht die mögliche Haftreibung der Palette nicht mehr aus. Sie beginnt zu rutschen. Mit der nun etwas geringeren Gleitreibung rutscht sie recht zügig los und spannt beide Seiten des Zurrgurts. Nach wenigen Zentimetern Rutschweg ist der Gurt soweit gespannt und auf Kraft gebracht, dass er zusammen mit der Gleitreibung die Palette halten könnte. Physikalisch ausgedrückt: Es besteht jetzt statisches Gleichgewicht zwischen Hangabtriebskraft einerseits und Gleitreibung plus Zurrkraft andererseits.

Die Palette bleibt aber deshalb noch nicht stehen. Sie ist bis zu diesem Zeitpunkt beschleunigt worden und hat jetzt ihre höchste Rutschgeschwindigkeit erreicht. Sie rutscht weiter und dabei wird der Gurt weiter gedehnt, entwickelt noch mehr Haltekraft und bringt erst durch diesen „dynamischen Kraftüberschuss“ die Palette endlich zum Stillstand. Jetzt steht wieder der etwas größere Haftreibungsspielraum zur Verfügung, so dass die Palette weiterhin stehen bleibt, auch wenn die Neigung der Ladefläche inzwischen auf knapp 35° erhöht worden ist, um den Sand vollständig zu entladen.

Diese dynamische Überhöhung der Zurrkraft gegenüber dem Wert, der für statisches Gleichgewicht nötig ist, wird im nächsten Beispiel mit realistischen Betriebsbedingungen für eine Vollbremsung berechnet und vorgestellt.

Beispiel 2: Eine starre Ladungseinheit wird gegen Rutschen nach vorn mit zwei diagonal verlaufenden Gurten gesichert. Die wichtigsten Daten der Sicherungsanordnung sind:

Masse der Ladungseinheit m = 10 t (10000 kg)
Haftreibbeiwert zur Ladefläche μh = 0,38
Gleitreibbeiwert zur Ladefläche μg = 0,33
Vorspannkraft in jedem Gurt F0 = 300 daN (3 kN)
zulässige Laschkraft LC je Gurt LC = 3000 kN (30 kN)

Die maximal auftretende Trägheitskraft auf die Ladung wird nach den geltenden Richtlinien und Normen mit FXmax = 0,8 · m · g = 7850 daN festgesetzt. Die Gurte mit einem LC von jeweils 3000 daN sind nach konventioneller Rechnung für die Sicherung gerade ausreichend.


Abbildung - LSBH

Abbildung 2.12: Sicherungsanordnung in Beispiel 2 [H. Kaps]

Mit Hilfe eines geeigneten Computerprogramms werden für diese Sicherungsanordnung in sehr kurzen Zeitintervallen Bilanzen gegen die schnell ansteigende Bremskraft gezogen. Aus den Kraftdifferenzen wird ermittelt, ob die Ladung rutscht. Wenn sie rutscht, wird ihre Beschleunigung, die Rutschgeschwindigkeit und der Rutschweg schrittweise ermittelt. Der Rutschweg der Ladung führt zu einer Dehnung und damit Kraftzunahme der Laschings. Die aktuelle Laschkraft geht in die jeweiligen Bilanzen ein. Auf diese Weise erhält man eine zeitgetreue Abbildung der Vorgänge auf der Ladefläche.

Abb. 2.13 zeigt, was tatsächlich bei einer harten Vollbremsung geschieht. Die Trägheitskraft (schwarze Kurve) hat nach einer Sekunde nahezu ihren vollen Wert von FXmax = 7850 daN erreicht. Schon nach 0,29 Sekunden reicht das Sicherungsvermögen aus Vorspannkraft der Laschings und Haftreibung (rote Kurve) nicht mehr aus. Die Ladung beginnt zu rutschen, die Laschings werden gedehnt und nehmen weitere Kraft auf. Dadurch steigt das Sicherungsvermögen an, wobei aber die geringere Gleitreibung wirkt. Bis zum Zeitpunkt 0,64 Sekunden wird die Ladung beschleunigt und erreicht hier ihre größte Geschwindigkeit auf der Ladefläche von gut 0,42 m/s. Auch die kinetische Energie hat hier ihr Maximum.

Im folgenden Zeitraum von 0,64 bis 0,90 Sekunden entsteht ein Sicherungsüberschuss, der die Ladung auf der Ladefläche wieder zum Stehen bringt. Wenn die Ladung also nach insgesamt 0,151 m Rutschweg wieder steht, haben die Laschings zusammen 8560 daN Kraft aufgenommen. Jetzt steht wieder das Haftreibungspotenzial und damit ein Sicherungsvermögen von rund 10910 daN zur Verfügung.


Abbildung - LSBH

Abbildung 2.13: Rutschen der Ladung bei harter Vollbremsung [H. Kaps]

Die volle Trägheitskraft beträgt aber nur 7850 daN. Mehr wird von der Ladungssicherung nicht gefordert. Die beiden Laschings liefern mit ihren Längskomponenten 5400 daN. Die restlichen 2450 daN werden aus dem Haftreibungspotenzial „abgerufen“. Das bestehende Potenzial von 5510 daN wird nicht ausgeschöpft, nicht einmal die mögliche Gleitreibung von 4790 daN, weil die Ladung ja wieder steht. Haftreibung ist eine sich anpassende Kraft und liefert nur das, was gefordert wird.

Stattdessen werden die Laschings bis zum Ende des Bremsvorgangs nach etwa 3 Sekunden auf Grund ihrer Dehnung mit zusammen 8560 daN belastet. Das ist deutlich mehr als das berechnete LC von zusammen 6000 daN aus der Normvorgabe. Die dynamische Überhöhung der Zurrkräfte beträgt in diesem Beispiel 42,7%. Der Rutschweg der Ladung von 0,151 m hat die Laschings dabei um jeweils 0,091 m gedehnt.

Beurteilung

Im zweiten Beispiel ist die dynamische Überhöhung sehr groß ausgefallen. Ursächlich dafür ist in erster Linie der schnelle Anstieg der Bremskraft. Bei einem sanfteren Einleiten des Bremsmanövers mit einer Schwellzeit der Bremskraft von ca. 2 Sekunden würde unter ansonsten gleichen Umständen keine dynamische Überhöhung auftreten.

Eine geringere dynamische Überhöhung ist generell zu erwarten, wenn die Ladungseinheit eine gewisse elastische Verformbarkeit hat, die bereits eine Dehnung und Kraftaufnahme der Laschings ermöglicht, bevor die Ladung rutscht. Allerdings neigen elastische Ladungseinheiten zu Schwingungen in Schubrichtung und erzeugen dadurch ebenfalls eine dynamische Überhöhung der Zurrkraft. Das ist aber auch nur bei kurzen Schwellzeiten der Trägheitskraft der Fall.

Nachgiebige Ladungseinheiten, zu denen auch die plastisch verformbaren zählen, sind grundsätzlich nicht in der Lage, die verfügbaren Reibungskräfte vollständig von der Ladefläche auf die Gesamtmasse zu übertragen, wo sie gegen die Trägheitskräfte wirken können. Es fehlt die interne Steifigkeit und damit die Rückstellkraft, die erst bei größerer Verformung eine Nutzung der Reibung ermöglicht. Das Defizit an Reibungsnutzung müssen die Zurrmittel ausgleichen, wodurch sich ebenfalls eine Überhöhung der Zurrkräfte ergibt.

Für die Direktzurrung üblicher Ladungseinheiten mit geringer elastischer Verformbarkeit können die folgenden Regeln und Hinweise beachtet werden, um dynamische Überhöhungen von Zurrkräften zu begrenzen:

  • Laschings möglichst gut vorspannen, aber nicht auf mehr als 50% LC bei symmetrischer Zurrung, weniger bei asymmetrischer Zurrung.
  • Laschings mit kleiner elastischer Dehnung verwenden, z.B. Ketten statt Gurte.
  • Möglichst kurze Laschings setzen.
  • Laschings möglichst in Richtung der beabsichtigten Sicherung setzen.

Ladungseinheiten mit starker elastischer Verformbarkeit müssen hingegen „nachgiebiger“ gesichert werden, d.h. mit Gurten anstatt mit Ketten, mit weniger Vorspannkraft und mit größeren Zurrlängen.

Die dynamische Überhöhung von Zurrkräften wird bei der Konzeption von Sicherungsanordnungen derzeit ausschließlich durch die Festigkeitsreserve abgedeckt, die zwischen der zulässigen Belastung der Zurrmittel und deren Bruchkraft liegt. Diese Reserve beträgt in den meisten Fällen mindestens 100% der zulässigen Belastung. Das ist grundsätzlich ausreichend. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass diese Sicherheitsmarge im Straßenverkehr zu einem erheblichen Teil auch für andere Unsicherheiten vorgehalten werden muss. Das sind z.B. eine gewisse Abnutzung der Zurrelemente, statische Unbestimmtheit der Sicherungsanordnung und unsichere Einschätzung von Parametern (Zurrwinkel, Reibbeiwerte).

Bei Ladungssicherungselementen aus Stahl mit ausgeprägter Streckgrenze kann die dynamische Überhöhung der Zurrkraft durchaus zu bleibenden Verformungen führen, weil die Festigkeitsreserve gegenüber der Streckgrenze deutlich kleiner ist als die Reserve gegenüber der Bruchgrenze. Derartige bleibende Verformungen sind ein Kriterium für das Auswechseln des betroffenen Teils.

Merke: Die mögliche dynamische Überhöhung von Zurrkräften ist eine unabwendbare Begleiterscheinung jeglicher Direktsicherung von Ladung.



Wichtiger Hinweis: Die vorgeschriebene Festigkeitsreserve zwischen Bruchkraft und zulässiger Belastung von Sicherungsmitteln darf bei der Konzeption oder Beurteilung von Direktsicherungen unter keinen Umständen als Vorwand für irgendwelche Zugeständnisse oder Nachlässigkeiten benutzt werden. Sie ist fester Bestandteil der vereinfachten Rechenmodelle. Ohne diese Reserve besitzen diese Rechenmodelle keine Praxistauglichkeit.