II Seetüchtigkeit

1. Allgemein

2. Anfängliche Seeuntüchtigkeit

3. Organisatorische Seeuntüchtigkeit

4. Unterscheidung anfängliche und nachträgliche Seeuntüchtigkeit und Abgrenzung zu Bedienungsfehlern

5. Abgrenzung Nautisches – Kommerzielles Verschulden Reichweite der Haftungsfreistellung



Bei den folgenden Ausführungen gehe ich von dem einfachen Fall des Seetransportes aus. D.h. daß der Eigner das Schiff selbst zum Transport betreibt und dieses nicht an einen Charterer vermietet hat. Die Unterschiede in der Haftungsverteilung und der vertraglichen Struktur, die sich durch die Einschaltung eines Charterers ergeben, werden später noch beleuchtet.








1. Allgemein

Es ist allgemein anerkannt, daß ein Schiff dann seetüchtig ist, wenn der Schiffskörper nach aller Voraussicht imstande ist, mit der konkreten Ladung die Gefahren der beabsichtigten Reise zu überstehen. Ausgenommen sind hier Gefahren ungewöhnlicher Art. Der Begriff ist also immer relativ zu verstehen. Es kommt nicht darauf an, daß ein Schiff für jegliche Situationen verwandt werden kann, sondern darauf, welche Anforderungen die jeweilige Reise stellt.

Wie schon in dem Text von 1929 anklang, gibt es mittlerweile internationale Konventionen, die die Seetüchtigkeit des Schiffes vorschreiben. Häufig sind die Hague-Visby-Rules (Haager Regeln) von 1968 anzutreffen. Was das englische Recht angeht, so hat der Carriage of Goods by Sea Act von 1971 die Haager-Visby-Regeln einfach für in England geltendes Recht erklärt.

The Hague-Visby Rules
    Article II
    Subject to the provisions of Article VI, under every contract of carriage of goods by sea the carrier, in relation to the loading, handling, stowage, carriage, custody, care and discharge of such goods, shall be subject to the responsibilities and liabilities and entitled to the rights and immunities hereinafter set forth.

    Article III
    1. The carrier shall be bound before and at the beginning of the voyage to exercise due diligence to:
    (a) Make the ship seaworthy;
    (b) Properly man, equip and supply the ship;
    (c) Make the holds, refrigerating and cool chambers, and all other parts of the ship in which goods are carried, fit and safe for their reception, carriage and preservation.
    2 – 8. […]

    Article IV
    1. Neither the carrier nor the ship shall be liable for loss or damage arising or resulting from unseaworthiness unless caused by want of due diligence on the part of the carrier to make the ship seaworthy, and to secure that the ship is properly manned, equipped and supplied, and to make the holds, refrigerating and cool chambers and all other parts of the ship in which goods are carried fit and safe for their reception, carriage and preservation in accordance with the provisions of paragraph 1 of Article III. […]

    2. Neither the carrier nor the ship shall be responsible for loss or damage arising or resulting from:
    (a) Act, neglect, or default of the master, mariner, pilot, or the servants of the carrier in the navigation or in the management of the ship.
    []
    (p) Latent defects not discoverable by due diligence.

Auch treffen wir hier die Unterscheidung zwischen der Haftung bei der Führung des Schiffes (nautisches Verschulden) und der Haftung für die Ladungsfürsorge wieder. Dieser Text ist zwar von Deutschland nicht ratifiziert worden, wurde aber dennoch in das HGB umgesetzt. Daher ist es nicht verwunderlich, daß dieser Text in der Regelung in den eben behandelten Paragraphen entspricht.

    § 513 HGB
    Der Kapitän hat vor dem Antritt der Reise dafür zu sorgen, daß das Schiff in seetüchtigem Stand, gehörig eingerichtet und ausgerüstet, gehörig bemannt und verproviantiert ist und daß die zum Ausweis für Schiff, Besatzung und Ladung erforderlichen Papiere an Bord sind.

    § 514 HGB
    (1) […]
    (2) Er hat dafür zu sorgen, daß das Schiff nicht überladen und daß es mit dem nötigen Ballast und der erforderlichen Garnierung versehen wird.

Hier wird "Seetüchtigkeit" damit umschrieben, daß ein Schiff im "seetüchtigen" Stand sich befinden soll. Zwar ist durch den Zusatz "gehörig eingerichtet, ausgerüstet, bemannt und mit genügenden Vorräten versehen" ein Hinweis darauf gegeben, was alles zu beachten ist, doch ist hier keine abschließende Auflistung gegeben.

Es kommt aber nicht allein auf den Schiffskörper an. Weiterhin müssen auch die gehörige Einrichtung, Ausrüstung, Bemannung und Verproviantierung des Schiffes gewährleistet sein.

Ähnliches gilt auch für den Bereich der Binnenschiffahrt.
    § 8 BinSchG
    (1) Der Schiffer hat vor Antritt der Reise darauf zu sehen, daß das Schiff in fahrtüchtigem Zustande, gehörig eingerichtet und ausgerüstet, sowie hinreichend bemannt ist, und daß die Schiffspapiere und Ladungsverzeichnisse an Bord sind.

    (2) Er hat für die Tüchtigkeit der Gerätschaften zum Laden und Löschen, für die gehörige Stauung der Ladung, sowie dafür zu sorgen, daß das Schiff nicht schwerer beladen wird, als die Tragfähigkeit desselben und die jeweiligen Wasserstandsverhältnisse es gestatten.

§ 559 HGB enthält die Legaldefinition der Seetüchtigkeit, nämlich …
    § 559 HGB
    (1) jeder Art von Frachtvertrag hat der Verfrachter dafür zu sorgen, dass das Schiff in seetüchtigem Stand, gehörig eingerichtet, ausgerüstet, bemannt und mit genügenden Vorräten versehen ist (Seetüchtigkeit) sowie […].

    (2) Er haftet dem Ladungsbeteiligten für den Schaden, der auf einem Mangel der See- oder Ladungstüchtigkeit beruht, es sei denn, dass der Mangel bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen Verfrachters bis zum Antritt der Reise nicht zu entdecken war.

Wie wir in der Darstellung der Vertragsverhältnisse gesehen haben, tritt in unserem Beispiel der Reeder auch als Verfrachter auf. Das heißt, sofern der Reeder das Schiff nicht bspw. unter einem Zeitchartervertrag verchartert hat, trifft ihn auch die Verpflichtung aus § 559 HGB.



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2. Anfängliche Seeuntüchtigkeit

Zu beachten ist, daß alle Texte davon sprechen, daß vor Antritt der Reise die Seetüchtigkeit gegeben sein muß – sog. Anfängliche Seeuntüchtigkeit. Diese Unterscheidung wird uns noch bezüglich der Haftungsfolgen begegnen.

Obwohl also viele Staaten von den gleichen oder ähnlichen gesetzlichen Regelungen zur Seetüchtigkeit ausgehen, hat sich eine umfassende und international gültige Bewertung der Seetüchtigkeit bis heute nicht ergeben. Hier muß vielmehr auf das Einsatzgebiet und den jeweiligen Stand der Technik Rücksicht genommen werden. Prinzipiell ist festzuhalten, daß das Schiff nicht mit Mängeln behaftet sein darf, die eine ordnungsgemäße Erfüllung des Frachtvertrages von vornherein ausschließen und deren Nichtvorhandensein als selbstverständlich angesehen wird.

Dementsprechend gibt es auch eine unüberschaubare Anzahl von Gründen, die zu einer anfänglichen Seeuntüchtigkeit führen können.

    Mängel am Schiffskörper und seiner Einrichtungen
    Dieser muß bei Antritt der Reise zumindest "im Keim" schon vorhanden sein.

    Fehlerhafte Stauung
    Handlungen oder Unterlassungen beim Beladen des Schiffes/ der Güter
    Mangelnde Stabilität infolge mangelhafter Stauung
    Unzulässige Decksladung

Eine anfängliche Seeuntüchtigkeit kann auch dann eintreten, wenn der auftretende Mangel sich erst bei Durchführung der Reise zeigt, aber „im Keim“ schon bei Antritt der Reise vorhanden war.

Wenn der Mangel bei Beginn der Reise nicht „im Keim“ vorhanden war, dann handelt es sich nicht um eine anfängliche Seeuntüchtigkeit, sondern ggf. um eine nachträgliche.

    Beispiel:

    "Die Frage der anfänglichen Seetüchtigkeit kann […] nicht danach beurteilt werden, welche Wetterbedingungen für einen bestimmten Teil der Reise zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhergesagt werden, da sich die Wetterlage jederzeit ändern kann und von dem Kapitän zu erwarten ist, daß er sich laufend über die Wetterlage informiert und ggf. die Reise abbricht."


Insbesondere Handlungen oder Unterlassungen, die mit der Beladung des Schiffes und den Gütern verknüpft sind, können durchaus das gesamte Schiff und nicht zuletzt auch die Ladung gefährden. Zu denken ist hier an die Ladung von Getreide ohne Längsschott, eine zu tiefe Abladung hinsichtlich der vorhandenen Fahrwassertiefe oder auch Ladung, die aufgrund unsachgemäßer Stauung einfach verrutschen kann.

Weiter müssen auch mögliche Instabilitäten berücksichtigt werden, die durch inadäquate Stauung verursacht werden; insbesondere sind hier unzulässige Decksladungen zu erwähnen.


    Beispiel:

    Bei einem Kentern aufgrund bis über Deck ohne Quersicherung gestauter Paletten mit Salzsäcken wurde Seeuntüchtigkeit vom Bundesgerichtshof angenommen.

Die Stauung ist beispielsweise dann fehlerhaft, und führ zu einer anfänglichen Seeuntüchtigkeit, wenn das Schiff über die Freibordmarke hinaus beladen wird.

Manchmal ist die Seeuntüchtigkeit auch offensichtlich. Wenn z. B. das Schiff schon nicht aus der Hafen kommt; wie beispielsweise bei der MS "REPUBLICA DI GENOVA".
    Weitere Aspekte der Seetüchtigkeit:
    Bemannung (Safe Manning Certificate, Arbeitszeiten)
    Notwendige Dokumente (Seekarten, Unterlagen nach SOLAS (SMS & SMC) ISPS)
    Hafenstaatenkontrolle durch die Seeberufsgenossenschaft (See-BG)
    Unsachgemäße Stauung

Die Seeuntüchtigkeit kann aber auch andere Gründe haben. Wie schon im Text von 1622 anklang, kann ein Schiff seeuntüchtig sein, wenn es nicht genügend bemannt ist. Die Anforderungen hieran richten sich heutzutage nach den Vorschriften des Flaggenstaates. Also den Vorschriften des Staates, dessen Flagge das Schiff fliegt. Hierin liegt einer der Gründe, warum viele Schiffe zwar, wie es heißt "wirtschaftlich", einer deutschen Gesellschaft gehören, aber beispielsweise die Flagge von Antigua oder Panama fliegen. Solche Schiffe müssen dann also nicht die Anforderungen der deutschen Besetzungsverordnung erfüllen, sondern lediglich die Vorschriften von Antigua bzw. Panama. Allerdings sind diese Vorschriften mittlerweile auch international angeglichen.



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3. Organisatorische Seeuntüchtigkeit

Seit dem 11. September gelten auch in der Schiffahrt strengere Regeln bezüglich der Sicherheit. Fehlende oder mangelhafte organisatorische Maßnahmen können durchaus zu einer organisatorischen Seeuntüchtigkeit führen. So zum Beispiel wenn die Vorschriften des ISM-Codes (International Management Code for the Safe Operation of Ships and for Pollution Prevention) nicht eingehalten sind. Dieser Code findet sich im Anhang IX zur SOLAS 74 (Safety of Life at Sea Convention 1974) und ist 1995 in das nationale Recht der Bundesrepublik Deutschland übernommen worden. Das bedeutet, daß hierdurch eine international gleiche Grundlage für Schiffssicherheit geschaffen wurde, denken wir nur einmal an das SMS (Safety Management System), das vom Reeder oder jeder Person, die die Verantwortlichkeit über den Schiffsbetrieb übernommen hat, eingeführt und überwacht werden muß. Ein Fehlen des erforderlichen "Safe Management System" (SMS) oder des Safety Management Certificate (SMC), kann für eine Seeuntüchtigkeit sprechen. Hierdurch wird deutlich, daß auch der Papierkrieg eine Auswirkung auf die Schiffahrt hat.

Ob ein Schiff allen diesen Anforderungen auch gerecht wird, wird stichprobenartig im Rahmen der sog. Port State Control durch die See-BG überprüft. Hier wird aber auch die Sicherheit des Schiffes unter dem Blickwinkel der Seetüchtigkeit untersucht.



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4. Unterscheidung anfängliche und nachträgliche Seeuntüchtigkeit und Abgrenzung zu Bedienungsfehlern

Wie schon zu Beginn festgehalten, haben sich die bisherigen Ausführungen auf die Seetüchtigkeit zu Beginn der Reise bezogen. Wenn wir von der Situation zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende ausgehen, wird schnell klar, daß eine solche nachträgliche Seeuntüchtigkeit beispielsweise durch einen Sturm verursacht sein kann.

Auch in Bedienungsfehlern können sich Gefahren realisieren, die eine Seeuntüchtigkeit zur Folge haben. Wenn, wie bereits eben erwähnt, kein „Keim“ für den hier realisierten Mangel vorgelegen hat, so tritt eine nachträgliche Seeuntauglichkeit durch den Bedienungsfehler ein. Dies kann geschehen, wenn die Schiffsbesatzung versäumt, eine notwendige Bedienungsmaßnahme, sobald diese erforderlich ist, vorzunehmen. Die Gefahr entsteht mit anderen Worten erst dadurch, daß die in der konkreten Situation erforderliche Maßnahme unterlassen oder unsachgemäß ausgeführt wird.

Zu beachten ist jedoch weiter, daß, selbst wenn ein Mangel bei Antritt der Reise vorliegt, dies noch nicht zwangsläufig eine anfängliche Seeuntüchtigkeit zur Folge hat. Es ist ein Fakt der Praxis, daß auch nach Beginn der Reise noch bestimmte Maßnahmen und Handlungen vorgenommen werden können, ohne dadurch Schiff und Ladung zu gefährden, so zum Beispiel ein Schließen der Luken vor Erreichen der offenen See. Werden diese möglichen Maßnahmen nicht vorgenommen, so liegt ein Bedienungsfehler und nachträgliche Seeuntüchtigkeit vor. Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß der Mangel bekannt und beabsichtigt war, ihn alsbald nach Reiseantritt zu beheben oder daß er unabhängig hiervon im normalen Bordbetrieb rechtzeitig behoben worden wäre.
    Bedienungsfehler und keine Seeuntüchtigkeit

    Mangel vor Reiseantritt nicht bekannt:
    Schiffsbesatzung versäumt notwendige Bedienungsmaßnahme
    Gefahr entsteht, daß Maßnahme unterlassen oder unsachgemäß ausgeführt wird

    Mangel vor Reiseantritt bekannt:
    Maßnahmen können noch vorgenommen werden
    es war beabsichtigt den Mangel zu beheben
    oder er wäre im normalen Bordbetrieb rechtzeitig behoben worden

Was sind nun die Folgen, wenn ein Schiff erst während der Reise seeuntüchtig wird? Folgender Fall ist ein Beispiel aus dem Bereich der Binnenschiffahrt für die Abgrenzung von anfänglicher und nachträglicher Ladungsuntüchtigkeit (Bedienungsfehler und Seetüchtigkeit (BGH 11.07.1983 – 11 ZR 211/82)):
    Auf dem Schiff MS HAMBURG sollten knapp 500 t in Säcke verpackte Asbestfasern von Hamburg nach Berlin transportiert werden. Das Schiff hatte über das Wochenende festgemacht und der Kapitän und die Besatzung haben das Schiff verlassen. Als Wache blieb allein ein Bootsmann zurück.

    Der Bootsmann wollte sich am Wochenende nützlich machen und das Deck schrubben. Dazu begann er, Wasser an Deck zu pumpen. Bevor er das tat, hatte er sich nicht vergewissert, ob sämtliche Ventile für das Anpumpen von Wasser in der richtigen Stellung waren. Es kam daher dazu, daß ein Teil des angepumpten Wassers nicht auf Deck, sondern auf dem Asbest landete. Das erste Gericht entschied: Ohne weiteres haftete das Schiff für das fahrlässige Verhalten des Bootsmanns, denn dieser wäre verpflichtet gewesen, das Ventil zunächst zu überprüfen, um festzustellen, ob dieses ordnungsgemäß geschlossen war. Es stelle sich allerdings die Frage, ob aufgrund einer anfänglichen Ladungsuntüchtigkeit die Haftungsbegrenzung, die für den Transport vertraglich vereinbart worden war, entfiel. Die Kläger hatten hier argumentiert, da das Ventil von Anfang an nicht ordnungsgemäß geschlossen gewesen sei, sei das Schiff von Anfang an ladungsuntüchtig gewesen.

Der Bundesgerichtshof (BGH) argumentierte, daß das nicht hinreichend geschlossene Ventil für sich allein die Ladung nicht gefährdet habe, sondern hierzu es einer weiteren Tätigkeit der Besatzung bedurfte. Allein dieser notwendige weitere Zwischenschritt lasse Zweifel daran aufkommen, daß es sich hier um eine anfängliche Ladungsuntüchtigkeit gehandelt habe. Denn hätte der Bootsmann das Deck nicht gereinigt, so wäre auch kein Wasser in den Laderaum gelangt. Die See- bzw. Ladungsuntüchtigkeit wurde vom Gericht aber schon deshalb verneint, weil im vorliegenden Fall zu erwarten war, daß der die Fahr- oder Ladungsuntüchtigkeit berührende Mangel bei gehöriger Bedienung die des Schiffes vor Eintritt des Schadens entdeckt und beseitigt werden würde. Bei ordnungsgemäßer Bedienung des Schiffes hätte der Bootsmann das Ventil auf seinen ordnungsgemäßen Verschluß sorgsam kontrollieren müssen, ehe er mit dem Ansaugen von Wasser begann. Bei einer sorgfältigen Überprüfung des Ventils wäre zu erwarten gewesen, daß er das Verschließen des Ventils bemerkt und dieses vollständig geschlossen hätte. Es zeigt sich hier also, daß ein „im Keim“ vorhandener Mangel nur dann zu einer anfänglichen See- bzw. Ladungsuntüchtigkeit führt, wenn davon auszugehen ist, daß dieser nicht in einem ordnungsgemäßen Betriebsablauf entdeckt worden wäre.

In dem vom BGH entschiedenen Fall hatten die Kläger weiter argumentiert, daß der Kapitän für den Ladungsschaden hafte, weil er persönlich nichts unternommen habe, um vor Beladen des Schiffes die Ventile zu überprüfen. Dieses Argument wurde jedoch auch von dem Gericht abgelehnt. Es führte aus, daß die Pflicht des Kapitäns, für die See- und Ladungstüchtigkeit nach § 513 HGB zu sorgen, überspannt würde, wenn man von ihm verlangte, routinemäßige Tätigkeiten eines berufserfahrenen und mit dem Schiff vertrauten Besatzungsmitglieds ohne besonderen Grund jeweils auf die ordnungsgemäße Ausführung zu überprüfen. Davon könne nur abgewichen werden, wenn es sich um außergewöhnliche Tätigkeiten bzw. ein Besatzungsmitglied handelte, welches nicht mit dem Schiff vertraut ist. Da jedoch beide Möglichkeiten nicht vorlagen, war hier eine Haftung des Kapitäns nicht gegeben.



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5. Abgrenzung Nautisches – Kommerzielles Verschulden Reichweite der Haftungsfreistellung

    § 606 HGB

    [Der Verfrachter] haftet für den Schaden, der durch Verlust oder Beschädigung der Güter in der Zeit von der Annahme bis zur Ablieferung entsteht, es sei denn, daß der Verlust oder die Beschädigung auf Umständen beruht, die durch die Sorgfalt eines ordentlichen Verfrachters nicht abgewendet werden konnten.

    § 607 HGB
    (1) Der Verfrachter hat ein Verschulden seiner Leute und der Schiffsbesatzung in gleichem Umfang zu vertreten wie eigenes Verschulden.
    (2) Ist der Schaden durch ein Verhalten bei der Führung oder der sonstigen Bedienung des Schiffes oder durch Feuer entstanden, so hat der Verfrachter nur sein eigenes Verschulden zu vertreten. Zur Bedienung des Schiffes gehören nicht solche Maßnahmen, die überwiegend im Interesse der Ladung getroffen werden.

Auch zur Abgrenzung zwischen nautischem und kommerziellen Verschuldens ein kurzer Beispielsfall:
    An Bord eines Schiffes waren u.a. mehrere Container mit Tabakwaren in einem Gesamtwert von etwas mehr als eine halbe Million Euro geladen worden. Das Schiff legte nachmittags aus einem englischen Hafen ab und gegen ca. 23:00 Uhr übernahm der erste Offizier die Wache. Nach einer Kursänderung schlief der Offizier ein. Er erwachte erst wieder, als das Schiff auf Grund gelaufen und im Sinken begriffen war.

    Die Transportversicherung der Eigentümer der Container mit den Tabakwaren klagte nun auf Schadensersatz. Die Versicherung argumentierte, daß das Schiff seeuntüchtig gewesen sei. Es handele sich nämlich nicht um ein nautisches Verschulden, also ein Verschulden bei der Führung des Schiffes, denn, so die Argumentation, das Einschlafen des ersten Offiziers sei gerade das Gegenteil von Schiffsführung.

Der Haftungsausschluß wegen nautischen Verschuldens beruht auf den Haager Regeln von 1924, die der deutsche Gesetzgeber im Jahr 1937 in das HGB eingearbeitet hat. Die Haager Regeln bezwecken den Ausgleich der Interessen der Reeder und Verfrachter ein weitgehender Haftungsfreistellung auf der einen Seite, mit den gegenläufigen Interessen der Befrachter auf der anderen Seite (wir sehen hier die Haftungsverteilung, die schon in dem Buch von 1929, das ich anfangs zitierte, wiedergegeben ist). Der Konflikt wurde durch die Anordnung der zwingenden Haftung für sogenanntes kommerzielles Verschulden bei gleichzeitiger Haftungsfreistellung für nautisches Verschulden gelöst. Damit sollte erreicht werden, daß der Verfrachter in dem Bereich von der Haftung freigestellt wird, in dem sein Risiko, bereits durch geringfügige Versehen größten Schaden an den Rechtsgütern des Vertragspartners zu verursachen, mit ihm fehlenden Eingriffsmöglichkeiten (Isolierung des Schiffs auf hoher See) und einem hohen Risiko für sein eigenes Vermögen (Schiff) einhergeht. Man könnte auch anders sagen: Der Verfrachter ist schon genug gestraft, wenn er sein eigenes Schiff verliert. Dementsprechend wird er schon dafür Sorge tragen, daß die von ihm ausgewählten Mitarbeiter ihre Pflichten ordnungsgemäß erfüllen.

Unter die Führung des Schiffes im Sinne des § 607 Abs. 2 Satz 1 HGB fallen alle Maßnahmen in Bezug auf die Fortbewegung des Schiffes. Beispielsweise Schiffsmanöver, Ruder- und Maschinenkommandos, das Setzen des Kurses, die Besetzung des Ausgucks, die Standortbestimmung, die Beobachtung des Radars, die Signalgebung sowie die Beachtung der Vorschriften des Seestraßenrechts. Bei der sonstigen Bedienung des Schiffes handelt es sich um die technische Handhabung des Schiffes, soweit sie nicht die Navigation betrifft.

Zurück zum Fall:
Der BGH befand, daß die Strandung des Schiffes nicht allein auf das Einschlafen des ersten Offiziers zurückzuführen ist, sondern als Zusammenwirken von Handlungen, wie beispielsweise dem Setzen des Kurses und daran anschließend das Einschlafen. Dieser gesamte Ablauf falle aber unter den Begriff der "Führung des Schiffes". Er sei nicht anders zu beurteilen, als etwa der Fall, daß der erste Offizier wach gewesen wäre und irrtümlich oder aus Unachtsamkeit einen falschen Kurs gesetzt bzw. den gesetzten Kurs nicht korrigiert hätte. Damit kam das Gericht zu dem Ergebnis, daß hier der Verfrachter gem. § 607 Abs. 2 HGB nicht haftet.

Wenn Sie diese Entscheidung mit der Rechtslage, beispielsweise im Straßentransport, vergleichen, wird einem der Unterschied schnell klar: Könnte sich ein Spediteur mit der Begründung, daß ihr Fahrer eingeschlafen sei und deshalb der Unfall geschah, aus der Haftung verabschieden?
    Zusammenfassung Haftung
    Zwangshaftung für anfängliche Seetüchtigkeit und Schäden an den Gütern in seiner Obhut.
    Keine Haftung für das Verhalten der Besatzung des Schiffes bei der Führung des Schiffes.
    Das Problem ist damit die Abgrenzung von "Maßnahmen, die überwiegend im Interesse der Ladung getroffen werden" und solchen, die zur Führung des Schiffes gehören (kommerzielles vs. nautisches Verschulden).




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