3  Verschiedenes
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3.1 Wankfaktor
3.1.1 Physikalische Ursachen

Zu den im europäischen Raum noch strittigen Punkten der Ladungssicherung auf Straßenfahrzeugen gehört der sogenannte Wankfaktor. Dieser Rechenwert erscheint als Zuschlag zum Querbeschleunigungsfaktor 0,5 offenbar als einmalige Besonderheit zuerst in der deutschen Richtlinie VDI 2702 und später auch in der Norm EN 12185-1:2003. Der Zuschlag beträgt dort in beiden Fällen 0,2 und soll nur dann zur Bemessung der Kippsicherung quer zur Fahrtrichtung verwendet werden, wenn die betreffende Ladungseinheit unter der Annahme einer Querbeschleunigung von 0,7 g nicht aus sich selbst heraus standsicher ist.

Als Begründung für diesen zusätzlichen Faktor wird die „Berücksichtigung von dynamischen Kippmomenten durch eine instationäre Seitenneigung bzw. durch Winkelbeschleunigungen aus Wankschwingungen des Fahrzeugs um seine Längsachse während einer Kurvenfahrt“ angegeben.

Im Bericht „Ladungssicherung im Straßenverkehr – Wer kennt die Wahrheit?“ ist gezeigt worden, dass beim schnellen Einleiten einer stationären Kurvenfahrt und auch bei einem Spurwechsel sowie bei schnellen Ausweichmanövern das Anwachsen der Querbeschleunigung von Winkelbeschleunigungen aus Schwingungen der Ladefläche um die Längsachse des Fahrzeugs überlagert wird.

Diese Schwingungen können je nach Fahrzeugfederung mit Perioden um 1,5 s und Amplituden um 3° auftreten. Die Winkelbeschleunigungen aus diesen Schwingungen liegen in der Größenordnung von 1  s-2 und führen zu Tangentialkräften. Diese werden zusammen mit der Fliehkraft und dem Hangabtrieb aus der geneigten Ladefläche rechnerisch als gemeinsame Trägheitskraft im Schwerpunkt der Ladungseinheit angesetzt. Damit sind die Tangentialkräfte aus den Winkelbeschleunigungen Bestandteil der Querkraft aus der festgelegten Querbeschleunigung von 0,5 g. Das quasistatische Kippmoment der Ladungseinheit wird aus dieser Querkraft und dem vertikalen Hebel zwischen Ladungsschwerpunkt und Kippachse zusammengesetzt.

Bei diesem üblichen und brauchbaren Denkmodell wird vereinfachend angenommen, dass die Masse der Ladungseinheit in ihrem Schwerpunkt konzentriert ist. Tatsächlich aber hat jede Masse eine räumliche Ausdehnung und reagiert auf Winkelbeschleunigungen mit Rotationsträgheit. Die Rotationsträgheit wiederum führt zu einem zusätzlichen Kippmoment, welches nicht in dem verwendeten Rechenmodell enthalten ist, weil eine punktförmige Masse keine Rotationsträgheit haben kann. Die etwas umständliche Berechnung dieses zusätzlichen Kippmoments wird in den genannten Richtlinien und Normen durch eine pauschale Vergrößerung der angenommenen Querbeschleunigung ersetzt. Das ist der Hintergrund der oben zitierten Begründung für den Wankfaktor.

Im Bericht „Ladungssicherung im Straßenverkehr – Wer kennt die Wahrheit?“ ist mit plausiblen Annahmen vorgerechnet worden, dass dieser Wankfaktor aufgrund der beschriebenen Mechanismen höchstens den Wert 0,1 g haben sollte. Tatsächlich ist auch dieser Wert nur mit einer Ladungseinheit zu erreichen, die mit der straßenverkehrsmäßig zulässigen Höhe und Breite im Grenzbereich liegt, also eine große Rotationsträgheit besitzt.

Nicht geklärt ist, warum die Väter des Wankfaktors den recht großen Wert 0,2 g gewählt haben. Aufzeichnungen oder Beratungsprotokolle existieren nicht oder sind nicht zugänglich. Eine Vermutung lautet, dass Nutzfahrzeuge in der Vergangenheit andere Fahrgestellfederungen hatten, deren Dämpfungseigenschaften im Vergleich zu heutigen Nutzfahrzeugen schlechter waren, so dass mit deutlich stärkeren Wankschwingungen gerechnet wurde. Es besteht auch die Möglichkeit, dass mit einem größeren Wankfaktor, als es das zusätzliche Kippmoment aus der Rotationsträgheit erfordert hätte, das oben mehrfach beschriebene Ankippen von Ladungseinheiten und die damit verbundenen dynamischen Effekte begrenzt werden sollten.


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3.1.2 Akzeptanzprobleme

Während in der Fassung der Norm DIN EN 12195-1:2004 dieser Wankfaktor noch mit 0,2 g festgelegt worden war, ist er in der geänderten Fassung DIN EN 12195-1:2011 aufgrund von weiteren unabhängigen Expertenschätzungen auf 0,1 g verringert worden. Allerdings wurde in der Norm die Verwendung des Wankfaktors an Bedingungen geknüpft, die nahezu einer faktischen „Abschaffung“ gleichkommen. Diese Bedingungen lauten für den Querbeschleunigungskoeffizienten cy:

Kippsicherung durch Niederzurrung:   cy = 0,5 mit FT = STF
oder:   cy = 0,6 mit FT = 0,5 × LC
Kippsicherung durch Direktzurrung:   cy = 0,6 mit FR = LC

Die Mehrzahl der Ladungssicherungsanordnungen im Straßenverkehr sind Niederzurrungen, von denen allerdings nur ein kleiner Teil der Kippsicherung dient. Die erreichbare Vorspannkraft dürfte in nahezu allen solchen Fällen gleich STF sein, so dass mit cy = 0,5 gerechnet werden darf, also ohne Wankfaktor.

Nicht unerwähnt soll bleiben, dass in der gleichen Norm das Kriterium zur Feststellung der Kippsicherheit falsch formuliert ist. Es heißt dort als Nachweis der Kippsicherheit:

[m] (65)
Ladungssicherung im Straßenverkehr – die Fakten

Bild 41: Kippsicherheit durch Eigenstandfestigkeit

Es soll verwendet werden: cy = 0,5 und cz = 1. Damit wäre nach der Norm eine Ladungseinheit mit beispielsweise by = 0,55×d noch kippsicher. Sie könnte also normgerecht ausschließlich durch Blockieren in ihrer unteren Standebene gegen Rutschen gesichert werden.

Tatsächlich aber ist die Rotationsträgheit eines Körpers ständig vorhanden. Sie tritt nicht erst auf, wenn Kippgefährdung da ist, wie der Anwendungshinweis des Wankfaktors möglicherweise suggeriert. Folglich muss die Eigenstandfestigkeit mit dem pauschalen Kippmoment von 0,6×m×g×d geprüft werden. Mit einem Standfestigkeitshebel von b = 0,55×d beträgt das Eigenstandmoment aber nur 0,55×m×g×d. Es wäre also nicht in der Lage, Kippen allein zu verhindern. Das Prüfkriterium sollte entsprechend geändert werden.

Bei einem sehr schnell eingeleiteten Bremsmanöver oder einem scharfen Anfahren gibt es auch vergleichbare Schwingungen der Ladefläche um die Querachse. Diese Schwingungen werden Nickschwingungen genannt. Ihre Amplituden sind zwar kleiner als die von Wankschwingungen. Dafür sind ihre Perioden kürzer, so dass Winkelbeschleunigungen in gleicher Größenordnung wie bei den Wankschwingungen nicht ausgeschlossen werden können. Hierüber sind jedoch Untersuchungen nicht bekannt und keine der bestehenden deutschen Richtlinien oder Normen wendet einen „Nickfaktor“ an.

Da der Wankfaktor weder im europäischen Ausland noch anderswo in der Welt bekannt war, wurde seine Übernahme in die Norm EN 12195-1 im Jahre 2003 von etlichen Delegationen, insbesondere von Schweden, kritisch beurteilt. Im Rahmen der bereits in Kapitel 1.5.2 erwähnten praktischen Versuche im Jahre 2004 in Schweden wurde folglich auch untersucht, ob der Wankfaktor berechtigt sei.

Die Versuche mit einem voll beladenen Lastkraftwagen waren allerdings nicht zielführend, da Ladungseinheiten mit relativ kleinen Abmessungen (Stapel von jeweils zwei Papierrollen mit Gesamthöhe = 2,27 m und 1,0 m Durchmesser) als Prüfobjekte verwendet wurden. Es wurde auch nicht gezielt nach dem Effekt der Rotationsträgheit, gepaart mit Winkelbeschleunigungen gesucht. Die Kurvenfahrten wurden extrem behutsam eingeleitet mit Erreichen der vollen Querbeschleunigung erst nach ca. 15 Sekunden, so dass überlagerte Wankschwingungen nicht entstehen konnten. Statt dessen wurden Niederzurrungen mit unterschiedlichen Vorspannkräften geprüft mit Ergebnissen, die geeignet sind, die zusätzlichen Sicherungswirkungen von Niederzurrungen zu bestätigen und einige Annahmen der damals gerade herausgegebenen Norm EN 12195-1:2003 zu widerlegen.

Die für den Wankfaktor halbwegs relevanten Resultate der betreffenden Fahrversuche waren, dass bei gemessenen Querbeschleunigungen von deutlich unter 0,5 g bereits das zusätzliche Stützrad des Fahrzeugs Bodenkontakt hatte. Daraus wurde die Schlussfolgerung gezogen, dass die allseits gebräuchliche Annahme von 0,5 g Querbeschleunigung erhebliche Reserven in der Ladungssicherung schafft, da dieser Wert in der Praxis kaum auftreten werde. Eher würde das Fahrzeug umkippen.

Überraschend taucht im Jahre 2011 in dem bereits in Kapitel 1.3.4 erwähnten Positionspapier der CEFIC zur Norm EN 12195-1:2010 eine Stellungnahme zum Wankfaktor und seiner tatsächlichen Herkunft als Kompensation eines Rotationsträgheitsmoments auf. Es wird aber im gleichen Atemzug abgestritten, dass es im Fahrbetrieb eines Nutzfahrzeugs Winkelbeschleunigungen ausreichender Größe gebe, die zeitgleich mit sonstigen Querbeschleunigungen aufträten und so die Anwendung eines Wankfaktors berechtigten. Eine Bezugnahme auf irgendwelche Plausibilitätsüberlegungen, Berechnungen oder Messungen fehlt jedoch bei CEFIC.

Diese Unsicherheit im Umgang mit der unbestreitbar vorhandenen Rotationsträgheit von Ladungseinheiten setzt sich zur Zeit fort. Im Entwurf einer Neufassung der deutschen Richtlinie VDI 2700 Blatt 2 ist der Wankfaktor mit 0,1 g in Form eines Standsicherheitsbeiwerts enthalten wie schon in der Norm DIN EN 12195-1:2011, aber nicht nur für die Kippsicherung zur Seite, sondern auch nach hinten, jedoch nicht nach vorn. Die einschränkenden Bedingungen der Norm DIN EN 12195-1:2011 fehlen. Dieser Faktor soll also bei Niederzurrung und bei Direktzurrung gleichermaßen angewendet werden.

In den internationalen Beratungen zur Neufassung der CTU-Packrichtlinie in einen internationalen Code(10) stieß der Wankfaktor auf Ablehnung, ein wenig auch gestützt auf die schwedischen Versuchsergebnisse und die tatsächliche oder vermeintliche Reserve, welche die Annahme von 0,5 g Querbeschleunigung enthält. Der „deutsche Wankfaktor“, was immer auch seine tiefere Bedeutung sein möge, werde von diesen Reserven abgedeckt.

Diese vermeintliche oder tatsächliche Reserve gibt Anlass zu betriebswirtschaftlichen Überlegungen. Wenn die erreichbare Querbeschleunigung im realen Fahrbetrieb tatsächlich um diese unterstellte Reserve geringer wäre, so hätte man derzeit die Mehrzahl aller kippsicheren und vorschriftsmäßig niedergezurrten Ladungen um 50 bis 100% „überlascht“. Das folgt aus der in Kapitel 1.2 beschriebenen starken Nichtlinearität des Verhältnisses zwischen Reib­beiwert und notwendiger Anzahl von Niederzurrungen, wie ein kurzes Beispiel zeigt.

Beispiel: Ladung mit dem Gesamtgewicht von 8700 daN wird gegen Verrutschen in Querrichtung mit Gurten niedergezurrt. Reibbeiwert μ = 0,3. Vorspannkraft FT = 400 daN, Zurrwinkel α = 90°. Die erforderliche Anzahl n der Gurte ist nach DIN EN 12195-1:2011:

Bei einer angenommenen Querbeschleunigung von 0,4 g, also ohne die unterstellte Reserve, hätte man in der gleichen Situation nur die Hälfte der Gurte benötigt. Der „unnötige“ Sicherungsmehraufwand hätte damit 100% betragen.

Diese Überlegung sollte Anlass sein, langfristig verlässlichere Beschleunigungsannahmen zu finden und zur Verfügung zu stellen. Solche Werte sollten auch vom Fahrzeugtyp, seiner Federung und sonstigen relevanten Eigenschaften abhängig gemacht werden.

Solange das nicht geschehen ist, bleibt der Wert von 0,5 g unangetastet auch für die reine Gleitsicherung. Die zusätzlichen Risiken für nicht eigenstandsichere Einheiten aus deren Rotationsträgheit sollten, auch ohne Veranlassung durch eine Norm oder einen Code, im Eigeninteresse aller Beteiligten durch zusätzliche Sicherungsmaßnahmen aufgefangen werden, und das umso mehr, je höher und breiter, also rotationsträger die Ladungseinheit ist.


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3.2 Kipp-Versuch

Die Norm DIN EN 12195-1:2011 enthält in Anhang D die Beschreibung von „Praktischen Prüfungen zur Bestimmung der Wirksamkeit von Ladungssicherungsmaßnahmen“. Diese Prüfungen können als Alternative zu den vorgeschlagenen Berechnungen durchgeführt werden und bieten sich vor allem für solche Ladungssicherungsanordnungen an, die sich aufgrund ihrer Komplexität einer einfachen deterministischen Berechnung entziehen. Typische Anwendungen sind die Sicherung von Ladungen auf Paletten mit Hilfe von Schrumpffolien oder die Sicherung mit Hilfe von Kunststoffnetzen. Es stehen zwei Methoden zur Auswahl: Dynamische Fahrprüfungen nach EN 12642:2006 oder eine Neigungsprüfung(11) mit näherer Beschreibung im Anhang D der DIN EN 12195-1:2011.

Es wird im nationalen Vorwort der DIN EN 12195-1:2011 beanstandet, dass der statische Kippversuch (= Neigungsprüfung) dynamische Einflüsse nicht enthalte. Diese Kritik soll zum Ausdruck bringen, dass Sicherungsanordnungen, die den statischen Kippversuch überstehen, in einer dynamischen Fahrprüfung versagen könnten. Außerdem trifft den statischen Kippversuch auch die Kritik an der Verwendung des „mittleren“ Reibbeiwerts m für Niederzurrung und Blockierung anstelle eines ausgesprochenen Gleitreibbeiwerts μD in der Vorläuferversion dieser Norm von 2004.

3.2.1 Gleichwertigkeit mit Rechenmodellen

Beide praktische Prüfungsformen sollen die rechnerische Prüfung nach dem vereinfachten Rechenmodell ersetzen können und sollten daher mit diesem Modell, aber auch untereinander gleichwertig sein. Diese Gleichwertigkeit ist auf Anhieb und ohne gründliche Langzeituntersuchungen kaum zu erwarten. Nachstehend werden einige Ausführungen gemacht, deren Ziel nicht die Antwort auf offene Fragen sein kann, sondern nur der Versuch, diese Fragen zu präzisieren. Dabei steht wieder die Niederzurrung im Zentrum der Betrachtung.

Das vereinfachte Rechenmodell nach DIN EN 12195-1:2011 geht von einer stationären Horizontalbeschleunigung aus und belässt die Schwerkraft auf 1 g für den Straßenverkehr. Die Sicherungswirkung der Niederzurrung wird auf die Reibungserhöhung durch die Vertikalkomponenten der beidseitigen Vorspannkräfte STF beschränkt, wobei diese durch einen Sicherheitsfaktor verringert werden. Als Reibbeiwert wird der mittlere Wert μ verwendet.

Der statische Kippversuch gleicht hinsichtlich der stationären vertikalen und horizontalen Beschleunigungen exakt dem vereinfachten Rechenmodell. Das setzt allerdings voraus, dass der für die Festlegung der Versuchsneigung verwendete mittlere Reibbeiwert dem tatsächlichen Haftreibbeiwert entspricht. Das aber ist per Definition nicht der Fall, da der zu verwendende mittlere Reibbeiwert nur 0,925 des Haftreibbeiwerts ist. Aus dieser Abweichung folgt, dass die Versuchsneigung größer festgesetzt wird, als sie mit dem tatsächlichen Haftreibbeiwert zu sein brauchte. Dadurch erhält der statische Kippversuch eine kleine Sicherheitsreserve. Diese Reserve wird aber in aller Regel dadurch aufgebraucht und sogar ins Gegenteil verkehrt, dass die sich tatsächlich auswirkende größere Reibung den Versuch mit einer geringeren Sicherungswirkung erfolgreich erscheinen lässt, als sie das Rechenmodell mit der kleineren Reibung fordert. Der Erfolg des Kippversuchs ist gegeben, wenn die untersuchte Ladungseinheit unter der Prüfneigung „ihre Position beibehält und sich nur eingeschränkt bewegt“, so die Norm DIN EN 12195-1:2011.

Dieser etwas schwer zu durchschauende Sachverhalt wird an einem Beispiel erläutert. Die nach dem Rechenmodell erforderliche Sicherungswirkung SW einer Niederzurrung oder vergleichbaren Sicherungsanordnung ergibt sich als Differenz von Trägheitskraft und Gewichtsreibung mit dem mittleren Rechen-Reibbeiwert μ. Der tatsächliche Haftreibbeiwert sei in diesem Beispiel μS = 0,4. Der mittlere Reibbeiwert ergibt sich zu μ= 0,925 × 0,4 = 0,37. Das Ladungsgewicht sei 1000 daN. Gesucht wird die Sicherungswirkung gegen Rutschen nach vorn mit der Bremsverzögerung von 0,8 g.

Rechnerisch erforderliche Sicherungswirkung:       SW = (0,8 – 0,37) × 1000 = 430 daN

Für den Kippversuch ergibt sich mit μ = 0,37 ein Winkel φ = 44,1°. Der Versuch ist erfolgreich ohne Rutschen der Ladung. Weil aber statt des mittleren Reibbeiwerts μ = 0,37 der tatsächliche Wert von 0,4 wirkt, reicht eine kleinere Sicherungswirkung als die berechnete aus.

Im Versuch ausreichende Sicherungswirkung:        SW = (0,8 – 0,40) × 1000 = 400 daN

Damit gibt sich der Kippversuch mit weniger Sicherungswirkung zufrieden, als das Rechenmodell fordert. Diese Schwäche des Kippversuchs wird ein wenig dadurch ausgeglichen, dass er die Sicherungswirkung selbst etwas näher an der Realität abbildet, also kleine, zulässige Bewegungen und Verformungen der Ladung berücksichtigt, wozu auch der vorübergehende Abfall des Reibbeiwerts hin zum Gleitreibbeiwert gehören kann. Nicht erfasst werden allerdings die bei einer realen Vollbremsung auftretenden dynamischen Vorgänge, die sich vor allem in Schwankungen des scheinbaren Gewichts durch Vertikalbeschleunigungen äußern.

Dynamische Fahrprüfungen bilden das Rechenmodell nur selten genau ab. Die Horizontalbeschleunigung kann größer oder kleiner als der Prüfwert ausfallen und weist überlagerte Schwankungen auf. Schwankungen der Vertikalkraft führen zu Schwankungen in der Reibung. Aber auch hier kommt zunächst der höhere tatsächliche Haftreibbeiwert und nicht der im Rechenmodell geforderte mittlere Reibbeiwert zur Geltung. Allerdings besteht der beob­achtete Trend zu ausgeprägterer Ladungsbewegung und damit zum geringeren Gleitreibbeiwert. Die Sicherungswirkung der Niederzurrung wird absolut realistisch erfasst.

Aus dem Blickwinkel der wirklichen Verhältnisse müsste natürlich erwartet werden, dass das Rechenmodell die dynamischen Fahrprüfungen abbildet und nicht umgekehrt. Aber Fragen der Abbildung komplexer Vorgänge durch vereinfachte Rechenmodelle sind nicht nur technisch-physikalischer Natur, sondern müssen unter Berücksichtigung der volkswirtschaftlich vertretbaren Risikoakzeptanz beantwortet werden.


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3.2.2 Praktikabilität

Beurteilt man den kritisierten Kippversuch unabhängig von seiner Gleichwertigkeit zum Rechenmodell der Norm, so erweist sie sich als recht praktikabel. Mit einer geeigneten Versuchsanordnung (z.B. Kipplaster) wird zunächst die Neigungsprüfung mit der ungesicherten Ladung nach B.1.2 der Norm DIN EN 12195-1:2011 durchgeführt und der Reibbeiwert mit μ = 0,925 × tanα bestimmt. Aus diesem Reibbeiwert μ und den transportrelevanten Beschleunigungsbeiwerten cx,y und cz wird der Neigungswinkel φ der eigentlichen Neigungsprüfung berechnet. Dann wird die Ladung gesichert und mit derselben Versuchsanordnung dieser Neigung φ ausgesetzt und festgestellt, ob die Ladung in Position bleibt.

Rutscht die Ladung nicht, so ist die Sicherungswirkung offensichtlich ausreichend. Rutscht sie, so muss der Versuch mit einer verbesserten Ladungssicherung wiederholt werden. Mit geeigneten Vorsichtsmaßnahmen kann dieser Neigungsversuch ohne  Gefahr von Ladungsbeschädigung mehrfach wiederholt werden. Auch die evtl. vorzunehmenden Verbesserungen an der Sicherung können durch gefahrlose Beobachtung des Ladungsverhaltens während des Versuchs leicht bestimmt werden. Das ist mit einer Fahrprüfung kaum zu leisten.


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3.2.3 Erweiterung für beliebige Vertikalbeschleunigungen

Der Anhang D der Norm DIN EN 12195-1:2011 weist noch einen kleinen Mangel auf. Der Anwendungsbereich der Norm schließt den Seeverkehr und den Schienenverkehr mit ein. Dort kann der Beschleunigungsbeiwert cz kleiner als 1 sein. Die angegebene Tabelle D.1 und auch das Bild D.3 liefern jedoch die Prüfwinkel φ nur für den vertikalen Beschleunigungsbeiwert cz = 1, also nur für den Straßenverkehr. Die nachstehende Gleichung liefert den Wert von sinφ als Funktion von cx,y, cz und ϒ für alle genannten Verkehrsbereiche. Der Parameter ϒ steht hier für den einzusetzenden Reibbeiwert oder das Verhältnis von Standhebel zu Kipphebel, wenn der Versuch zum Nachweis der Kippsicherheit verwendet werden soll.

Um Gleichung (66) mit größerer Rechensicherheit zu lösen, wird eine Substitution vorgenommen. Sie lautet:

Der Wert von r ist zu berechnen und dann in folgende, einfachere Gleichung einzusetzen:

Die Lösung der Gleichung (67) kann mit Hilfe einer Tabelle überprüft werden. Die Tabelle zeigt den Winkel φ mit den Eingängen r und ϒ.




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