Urteil des Monats: Juni 2015
  
"Verhüllte Obliegenheiten und Direktanspruch"

In unserem Urteil 07/2014 hatten wir uns mit „verhüllten Obliegenheiten“ beschäftigt. Heute wollen wir uns ansehen, welche Auswirkungen ein Verstoß gegen solche „verhüllten Obliegenheiten“ auf einen Direktanspruch des Geschädigten gegen den Versicherer haben kann.

Das OLG Naumburg hatte sich hierzu mit einem Fall aus der Verkehrshaftungsversicherung zu befassen:

Die Klägerin war mit dem Transport von 18.000 kg Stahl beauftragt worden und hatte hierfür eine Verkehrshaftungsversicherung abgeschlossen. Allerdings führte die Klägerin den Transport nicht selbst durch, sondern beauftragte ihrerseits einen Unterfrachtführer. Dieser Unterfrachtführer hatte seinerseits bei der jetzigen Berufungsbeklagten eine Verkehrshaftungsversicherung abgeschlossen. Schauen wir uns diesen Versicherungsvertrag einmal etwas genauer an:

  • In dem sog. „Fahrzeugverzeichnis“ hieß es: „Die Versicherung gilt für Beförderungsleistungen mit den nachstehend genannten Fahrzeugen, …“, wobei nachfolgend drei jeweils als „Sattelzug“ bezeichnete Fahrzeuge mit ihrem amtlichen Kennzeichen aufgeführt werden. Dabei handelte es sich jeweils um das amtliche Kennzeichen der Zugmaschinen.
  • Ziff 9 der AVB war überschrieben mit dem Begriff „Ausschlüsse“. (Man ahnt es schon, hier wird wohl der Titel unseres Beitrags eine Rolle spielen.) Demnach sollte der Versicherer leistungsfrei sein, falls der Versicherungsnehmer oder sein Repräsentant entweder den Schaden vorsätzlich oder leichtfertig in dem Bewusstsein, dass ein Schaden mit Wahrscheinlichkeit eintreten werde, verursacht haben, oder bei der Auswahl eines Erfüllungsgehilfen vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beachtet haben, wenn der Schaden von jenem in vorbezeichneter Weise herbeigeführt worden ist.
  • Gemäß Ziff. 10 der AVB oblag es dem Versicherungsnehmer, nachts und während der Ruhepausen für eine angemessene Bewachung des Fahrzeugs zu sorgen.

Der beim Unterfrachtführer als Fahrer angestellte F übernahm die Ware mit einem Sattelzug an einem Freitag, stellte den beladenen und ungesicherten Anhänger in einem Gewerbegebiet ab und fuhr mit der Zugmaschine zu seinem 35 km entfernten Wohnort, um dort das wohlverdiente Wochenende zu verbringen. In der Nacht zum Montag wurde der Trailer samt Ladung gestohlen.

Der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Unterfrachtführers war zwischenzeitlich rechtskräftig abgewiesen worden, also nahm die Klägerin den Verkehrshaftungsversicherer des Unterfrachtführers direkt in Anspruch.

Gemäß § 115 Abs. 1 VVG ist ein Geschädigter nämlich befugt, seinen Anspruch gegen den Versicherer (und nicht gegen den Schädiger) geltend zu machen:

„1.

wenn es sich um eine Haftpflichtversicherung zur Erfüllung einer nach dem Pflichtversicherungsgesetz bestehenden Versicherungspflicht handelt oder

2.

wenn über das Vermögen des Versicherungsnehmers das Insolvenzverfahren eröffnet oder der Eröffnungsantrag mangels Masse abgewiesen worden ist oder ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt worden ist oder

3.

wenn der Aufenthalt des Versicherungsnehmers unbekannt ist.“

 

Folglich bejahte das Gericht das Vorliegen der Ziffern 2 (s.o.) und 1, denn bei der Verkehrshaftungsversicherung handelt es sich gemäß § 7 a GüKG

 

„Der Unternehmer ist verpflichtet, eine Haftpflichtversicherung abzuschließen und aufrechtzuerhalten, die die gesetzliche Haftung wegen Güter- und Verspätungsschäden nach dem Vierten Abschnitt des Vierten Buches des Handelsgesetzbuches während Beförderungen, bei denen der Be- und Entladeort im Inland liegt, versichert.“

um eine Pflichtversicherung des hiesigen Unterfrachtführers.

 

Schwerpunkt der Entscheidung waren neben der dargestellten VVG-Problematik drei Fragen:

1.

Bestand überhaupt Versicherungsschutz für den entwendeten Trailer? Schließlich hatte dieser ja ein anderes Kennzeichen als in dem Fahrzeugverzeichnis aufgeführt gewesen war. Im Ergebnis bestand nach Ansicht des OLG Versicherungsschutz auch für den abgestellten Trailer. Dies ergebe sich bereits daraus, dass die Versicherung -lediglich- der drei aufgeführten Zugmaschinen schon gar keinen Sinn machen. Diese sind nämlich -wie der Name schon sagt- dazu da, einen Auflieger zu ziehen. Die Versicherung des Beförderungsrisikos wäre also gar nicht möglich, wenn Versicherungsschutz lediglich für die Zugmaschine, nicht jedoch für den Auflieger (der im Gegensatz zur Zugmaschine das Beförderungsgut beinhaltet) bestünde.

Daran änderte auch der Umstand nichts, dass der Auflieger abgekoppelt worden war. Entscheidend war, dass der versicherte Transport mit Übernahme der Ware bereits begonnen hatte, aber noch nicht beendet war. Der Trailer sollte ja nur vorübergehend (wenn auch über das ganze Wochenende) abgekoppelt werden.

Insbesondere, so das Gericht weiter, unterscheide der Versicherungsvertrag  nicht zwischen Situationen, die nicht mit einer Gefahrerhöhung einhergehen (wie z.B. dem Abkoppeln zwecks Reparatur), und dem vorübergehenden Abstellen über das Wochenende.

 

2.

Ein Verstoß gegen die o.g. Ziffern 9 und 10 der AVB sowohl des Unterfrachtführers als auch des F ergab sich aus dem Sachverhalt: Das operative Geschäft des Unterfrachtführers führte der Lebensgefährte der Geschäftsführerin - allerdings eher lax. Er überließ nämlich sowohl die Durchführung des Transports als auch die Wahl des Abstellortes für den Trailer seinem Fahrer. Auch hatte er es versäumt, den Fahrer mit Klauen auszurüsten, die den Trailer dagegen sichern konnten, mittels einer anderen Zugmaschine auf einfachem Wege aufgenommen zu werden. Kurz: Er hatte in gesteigerter Weise alles außer Acht gelassen, was einemsorgfältigen, auf den Schutz des anvertrauten Gutes bedachten Fuhrunternehmer hätte einleuchten müssen.

Auch der Fahrer selbst hatte daher in besonders gesteigerter Weise dasjenige außer Acht gelassen, was jedem sorgsamen Fahrer bei einem Zurücklassen des Hängers in einem Gewerbegebiet über das Wochenende hätte einleuchten müssen.

Auch der Unterfrachtführer selbst handelte als Versicherungsnehmer leichtfertig, da sie vor Einstellung des F versäumt hatte, ein polizeiliches Führungszeugnis einzuholen. Hätte sie das getan, hätte sie nämlich festgestellt, dass der F in der Vergangenheit wiederholt ein fragwürdiges Verhältnis zum Eigentumsbegriff offenbart hatte (Wohnungseinbruchdiebstahl in zwei Fällen sowie Betrugs in Tateinheit mit Urkundenfälschung in 16 Fällen: Freiheitsstrafe von 12 Monaten nach Bewährungswiderruf vollstreckt; gewerbsmäßiger Betrug in 53 Fällen, Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten).

 

3.

Aber wie wirken sich diese Verstöße nun auf den streitgegenständlichen Direktanspruch aus?

Entgegen der Benennung als „Ausschluss“ qualifizierte das Gericht Ziff. 9 AVB als verhüllte Obliegenheiten, weil durch sie nicht das von dem Versicherer übernommene Wagnis nach objektiven Kriterien weiter eingegrenzt werden soll, sondern es von der Einhaltung qualifizierter Sorgfaltsanforderungen seitens des Versicherungsnehmers abhängen soll, ob dieser den an sich bestehenden Versicherungsschutz für eine bestimmte Beförderungsleistung wieder verlieren soll.

Damit blieb die Klägerin gegenüber ihrem Versicherungsnehmer (dem Unterfrachtführer) leistungsfrei, allerdings lediglich zu 70 %. Trotz der in den AVB im Falle grober Fahrlässigkeit vorgesehener vollständiger Leistungsfreiheit wandte das Gericht nämlich § 28 Abs. 2 S. 2 VVG entsprechend an:

 

„Bestimmt der Vertrag, dass der Versicherer bei Verletzung einer vom Versicherungsnehmer zu erfüllenden vertraglichen Obliegenheit nicht zur Leistung verpflichtet ist, ist er leistungsfrei, wenn der Versicherungsnehmer die Obliegenheit vorsätzlich verletzt hat. Im Fall einer grob fahrlässigen Verletzung der Obliegenheit ist der Versicherer berechtigt, seine Leistung in einem der Schwere des Verschuldens des Versicherungsnehmers entsprechenden Verhältnis zu kürzen; die Beweislast für das Nichtvorliegen einer groben Fahrlässigkeit trägt der Versicherungsnehmer.“

 

Die vorgesehene vollständige Leistungsfreiheit hielt das Gericht nämlich für unwirksam gemäß § 307 Abs. 1 BGB.

 

Wofür diese Quote, der Versicherer ist doch gemäß § 117 Abs. 1 iVm. Abs. 3 S. 2 VVG gegenüber dem Geschädigten leistungsfrei, wenn dieser Ersatz von einem anderen Schadensversicherer erlangen kann, und die Klägerin hatte doch ihrerseits eine eigene Transportversicherung abgeschlossen ?!

 

§ 117 VVG:

 

„(1)

Ist der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung dem Versicherungsnehmer gegenüber ganz oder teilweise frei, so bleibt gleichwohl seine Verpflichtung in Ansehung des Dritten bestehen.

(3)

In den Fällen der Absätze 1 und 2 ist der Versicherer nur im Rahmen der vorgeschriebenen Mindestversicherungssumme und der von ihm übernommenen Gefahr zur Leistung verpflichtet. Er ist leistungsfrei, soweit der Dritte Ersatz seines Schadens von einem anderen Schadensversicherer oder von einem Sozialversicherungsträger erlangen kann.“

 

Hinsichtlich der verbleibenden 30 % ergab sich der Direktanspruch der Klägerin bereits aus § 115 VVG, der Beklagte war ja in dieser Höhe gar nicht „leistungsfrei“ iSd. § 117 Abs. 1 VVG.

Folglich bezieht sich § 117 Abs. vorliegend lediglich auf jene 70 % der Schadenssumme, für die der Beklagte gegenüber der Klägerin gemäß § 117 Abs. 1 VVG haften musste. Und genau in Höhe dieser 70 % konnte der Beklagte die Klägerin auf ihren eigenen Transportversicherer verweisen. Es wäre ja unlogisch, wenn der Beklagte gemäß § 117 Abs. 1 VVG weiterhin zur Zahlung von 70 % verpflichtet wäre, und gemäß Abs. 3 die Klägerin bzgl. 100 % des Schadens an ihren eigenen Versicherer verweisen könnte.

Unklar bleibt allerdings, aus welchem Grunde das Gericht überhaupt die Vereinbarung der Leistungsfreiheit als unwirksam angesehen hatte. Gemäß § 210 VVG gelten die Beschränkungen der Vertragsfreiheit nämlich ausdrücklich nicht für Frachtführer und laufende Versicherungen. Und das Vorliegen einer laufenden Versicherung für Frachtführer legen die Entscheidungsgründe nahe (Ziff. 8: „Beförderungsleistungen mit den nachstehend genannten Fahrzeugen“).

 


Das hier besprochene Urteil ist in unserer Urteilsdatenbank mit folgenden Angaben zu finden:

Aktenzeichen:   10 U 5/13 (Hs)
Datum:   28.03.2014
Link zur Urteilsdatenbank:   OLG Naumburg, Urteil vom 28.03.2014, AZ.:10 U 5/13 (Hs)




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