6.4 Ladeflächenbegrenzungen und fahrzeuggebundene Sicherungseinrichtungen


6.4.6.1 Zurrpunkte




Die Bezeichnungen „Anschlagpunkte“ und „Zurrpunkte“ in Normen und Regeln

Zum besseren Verständnis der „Problematik Zurr- und Anschlagpunkte“ sollen die folgenden Ausführungen beitragen. Ein kleiner Rückblick in die Entwicklung der Vorschriften ist dazu hilfreich. Eine der ersten Bestimmungen über die Ladungssicherung auf Straßenfahrzeugen, die auch als zu beachtende technische Regel angesehen wurde, war die 1975 vom Verein Deutscher Ingenieure herausgegebene Richtlinie VDI 2700.

Punkt 1.4.1 behandelte darin „Hilfsmittel zur Ladungssicherung“. Auf Seite 3 wurde unter 1.4.1.1. aufgezählt, was mit dem Fahrzeug fest verbundene Hilfsmittel sind. Genannt war in der Aufstellung als letzter Punkt:

Anschlagpunkte /fest oder beweglich/.

In der Unfallverhütungsvorschrift „Fahrzeuge“ vom 1. April 1980 wurden Fahrzeugaufbauten und Einrichtungen zur Ladungssicherung in § 18 geregelt. In Absatz (1) Satz 2 hieß es:

(1) 2Ist eine ausreichende Ladungssicherung durch den Fahrzeugaufbau allein nicht gewährleistet, müssen geeignete Hilfsmittel zur Ladungssicherung vorhanden sein.

In den Durchführungsanweisungen wurde das durch eine Aufzählung präzisiert. U.a. hieß es:

Hilfsmittel zur Ladungssicherung können sein:
„Anschlagpunkte (fest oder beweglich)“.

Erst in der Unfallverhütungsvorschrift vom 1. April 1991 wurde das geändert. Aus § 18 wurde § 22, der in Absatz (1) durch zwei weitere Sätze ergänzt wurde. Jetzt hieß es:

(1) 2Ist eine Ladungssicherung durch den Fahrzeugaufbau allein nicht gewährleistet, müssen Hilfsmittel zur Ladungssicherung vorhanden sein.3 Pritschenaufbauten und Tieflader müssen mit Verankerungen für Zurrmittel zur Ladungssicherung ausgerüstet sein.4 Satz 3 gilt nicht für Fahrzeuge mit Kippbrücken mit mehr als 7,5 t zulässigem Gesamtgewicht.

In den Durchführungsanweisungen später revidierter Fassungen wurde zusätzlich festgelegt, dass diese Forderung auch Fahrzeugaufbauten und Ladeflächen von Pkw-Kombifahrzeugen einschließt. In der zugehörigen Aufzählung heißt es seitdem:

Einrichtungen und Hilfsmittel zur Ladungssicherung können z.B. sein:
„Zurrpunkte (fest oder beweglich)“.

In der aktuellen Unfallverhütungsvorschrift Fahrzeuge sind keine speziellen Vorschriften zur Beschaffenheit von Zurrpunkten enthalten. Es wird aber auf augenblicklich gültige Normen verwiesen, die Regelungen über Zurrpunkte enthalten, und zwar auf

  • DIN EN 12 640 „Ladungssicherung auf Straßenfahrzeugen; Zurrpunkte an Nutzfahrzeugen zur Güterbeförderung; Mindestanforderungen und Prüfung“,
  • DIN 75 410-1 „Ladungssicherung auf Straßenfahrzeugen; Teil 1: Zurrpunkte an Nutzfahrzeugen zur Güterbeförderung mit einer zulässigen Gesamtmasse bis 3,5 t; Mindestanforderungen“,
  • DIN 75 410-2 „Ladungssicherung auf Straßenfahrzeugen; Teil 2: Ladungssicherung in Pkw, Pkw-Kombi und Mehrzweck-Pkw“ und
  • DIN 75 410-3 „Ladungssicherung auf Straßenfahrzeugen; Teil 3: Ladungssicherung in Kastenwagen“.

Die DIN EN 12 640 vom Januar 2001 ist aus der Übernahme der EN 12 640 und der ersten DIN über Zurrpunkte, der DIN 75 410-1 vom April 1990, hervorgegangen. Die jetzige DIN 75 410-1 stammt vom Juli 2003.

Ein erster Entwurf zur alten DIN 75 410 Teil 1 erschien im Juni 1988 mit dem Titel „Ladungssicherung auf Straßenfahrzeugen, Nutzfahrzeuge zur Güterbeförderung, Zurrpunkte“. Einsprüche dazu durften bis zum 30. September 1988 eingereicht werden.

Am 10.3.89 fand eine abschließende Beratung zum Entwurf der Norm statt, allerdings unter Vorbehalt, weil die Überprüfung der Eingabe eines namhaften Fahrzeugherstellers noch nicht abgeschlossen war. Später wurde dessen Eingabe in die Norm aufgenommen. Kurz darauf legte der „Normenausschuss Kraftfahrzeuge (FAKRA) im DIN Deutsches Institut für Normung e.V.“ einen neuen Entwurf vor, der im April 1990 als Norm in Kraft gesetzt wurde.

Selbst in der überarbeiteten VDI 2700 vom November 2004 wird begrifflich nicht zwischen Anschlag- und Zurrpunkten unterschieden. Auf Seite 49 heißt es:

Der Schwerpunkt des Ladegutes sowie die Anschlagpunkte für Anschlag- und Zurrmittel sind dem Verlader bekannt zu machen und – soweit möglich – gut sichtbar kenntlich zu machen …

Im Internet hat der Autor noch am 16.1.2015 im „Arbeitsschutz-Portal“ folgende Formulierung gefunden:

Anschlagpunkte sind ausreißfest verankerte Vorrichtungen zum Einhängen von Seilen, Bändern oder Netzen für die Ladungssicherung oder Absturzsicherungen …

Eine klare Unterscheidung zwischen Anschlag- und Zurrpunkten hat sich offensichtlich bis heute nicht durchgesetzt. Dabei gibt es deutliche Unterschiede in der Art der Belastung bei bestimmten Neigungswinkeln. Sowohl in den Vorschriften zum Heben als auch den Normen für Zurrmittel wird der Neigungswinkel Beta (β) als Winkel zwischen den Strängen eines Anschlag- oder Zurrmittels und der Senkrechten definiert. Bei beiden Nutzungsarten wird kein Unterschied in der Bezeichnung des Neigungswinkels gemacht.


Abbildung - LSHB

Abbildung 6.4.6.1.11: Neigungswinkel beim Heben und Zurren [W. Strauch]

Wie unterschiedlich die Kräfte in den Anschlagmitteln und Anschlagpunkten sowie den Zurrmitteln und Zurrpunkten bei gleichen Winkeln sind, wird anhand nachfolgender Beispiele aufgezeigt. Ein besonderer Unterschied ist bei etwas Überlegung sofort augenfällig: Bei Anschlagpunkten sind die senkrecht nach oben wirkenden Kräfte entscheidend, bei Zurrpunkten sind es waagerecht wirkende Kräfte.

Kräfte beim Anschlagen von Lasten

Ein Lkw wird als Ladung zum Transport auf ein anderes Fahrzeug gesetzt. In Längsrichtung ist eine Traverse zu verwenden oder es müssen zwei Hebezeuge eingesetzt werden, damit sich das Fahrzeug zwischen beiden Hebeebenen in Längsrichtung nicht durchbiegt. An den Hebestellen vorn und hinten kann mit einer Quertraverse oder zweisträngigen Gehängen gearbeitet werden. Die Kräfte stellen sich in diesen Hebeebenen wie folgt dar:

(In den Bildmontagen auf Basis eines Originalfotos liegt der Schwerpunkt optisch außerhalb der Mitte. Er ist aber mittig und liegt senkrecht unter dem Haken des Hebezeuges)

Abbildung - LSHB Abbildung - LSHB

Abbildung 6.4.6.1.12 –
Neigungswinkel der Parten = 0°
Belastung der Anschlagpunkte 0,50 · P [W. Strauch]

Abbildung 6.4.6.1.13 –
Neigungswinkel der Parten = 30°
Belastung der Anschlagpunkte 0,58 · P [W. Strauch]

Abbildung - LSHB

Abbildung - LSHB

Abbildung 6.4.6.1.14 –
Neigungswinkel der Parten = 45°
Belastung der Anschlagpunkte 0,71 · P [W. Strauch]

Abbildung 6.4.6.1.15 –
Neigungswinkel der Parten = 60°
Belastung der Anschlagpunkte 1,00 · P [W. Strauch]

Berufsgenossenschaft und Normen fordern, das die Neigungswinkel nicht größer als 60° sein dürfen. Der Spreizwinkel ist bei symmetrischer Aufhängung dann 120°. Beim Heben von Lasten hat jeder Strang eines Zurrmittels und jeder Anschlagpunkt die volle Last zu tragen. Ob der Eigentümer des Fahrzeugs mit dem Spreizwinkel von 120° zwischen den Strängen einverstanden ist, sei dahingestellt. Mit (unerlaubt) höheren Winkeln steigt die Belastung rasant an: Bei 141° werden die Stränge mit dem 3-fachen belastet, bei 151° mit dem 4-fachen, bei 157° mit dem 5-fachen ….. und bei 180° mit unendlich großen Kräften.

Kräfte beim Verzurren von Lasten

Ein Packstück wird mit zwei symmetrisch angebrachten Direktzurrungen gegen Bewegungen in Vorausrichtung gesichert. Um den Unterschied zu den Anschlagpunkten deutlich zu machen, wird die Reibung vernachlässigt bzw. μ = 0 unterstellt. In der Praxis kann sich der Reibungsfaktor bei verölten oder durch Granulate o.ä. verunreinigten Unterlagen in Richtung Null bewegen.

Gesichert werden muss in den Beispielen gegen nach vorn wirkende Trägheitskräfte von 0,8 · P, das heißt bei zwei Laschings pro Zurrung mit 0,4 P. Welche Kräfte bei unterschiedlichen Neigungswinkeln auf die Befestigungspunkte an der Ladung, die Zurrmittel und die Zurrpunkte wirken, ist in den Abbildungen dargestellt:


Abbildung - LSHB

Abbildung 6.4.6.1.16: Bei einem Neigungswinkel β von 90°
beträgt die Zurrpunktbelastung 0,4 P [W. Strauch]

Wird die Masse des Packstücks mit 10 t angenommen, reicht auf jeder Seite eine Zurrung aus, bei der alle Bestandteile (Befestigungspunkt, Zurrmittel und Zurrpunkt) über ein LC von mindestens 4 t (ca. 4 000 daN) verfügen.


Abbildung - LSHB

Abbildung 6.4.6.1.17: Kettenlaschings mit großen Längskomponenten [W. Strauch]

Die mit den Ketten erreichbaren Sicherungskräfte in Längsrichtung können bei paralleler Führung der Ketten noch größer sein. Durch die Anbringung „über Kreuz“ werden die Sicherungskräfte in Längsrichtung gemindert und die Belastung auf die Zurrpunkte durch die Zurrgeometrie vergrößert.


Abbildung - LSHB

Abbildung 6.4.6.1.18: Bei einem Neigungswinkel β von 70°
beträgt die Zurrpunktbelastung 0,426 P [W. Strauch]

Alle Bestandteile der beiden verwendeten Zurrmittel müssen zur Längssicherung ein LC von mindestens dem 0,426-fachen des Packstückgewichts aufweisen.

Die gezeigten Sicherungen von Abb. 16 bis 18 kollidieren mit der DIN 12640 vom Januar 2001:


Abbildung - LSHB

Abbildung 6.4.6.1.19: Kennzeichnung bei Fahrzeugen, deren Zurrpunkte der Norm entsprechen [W. Strauch]

Die Norm schreibt eine Kennzeichnung der Fahrzeuge vor, sofern die Zurrpunkte normgerecht sind. Im Aufkleber müssen die tatsächlichen Zurrkraftwerte vermerkt sein. Bei allen derartigen Aufklebern ist ein Mindestwinkel von 30° mit der Horizontalen vermerkt, der eingehalten werden soll. Wird das vom Sicherungspersonal so verstanden und handeln sie danach, sind die Zurrungen von Abb. 16 bis 18 nicht normgerecht, obgleich mit ihnen vorzügliche Sicherungen in Längsrichtung erreicht werden können.

Die Vermutung des Autors ist, dass die Norm bzw. zumindest die vorgeschriebene Kennzeichnung nur die Sicherungsvariante „Niederzurrung“ im Blick hatte. Sollte der Hinweis von einem Mindestzurrwinkel von 30° immer zu befolgen sein, können sehr wirksame Sicherungsmethoden sowohl in Längs- als auch Querrichtung nicht ohne weiteres praktiziert werden. „Buchtlaschings“ könnten nur durch zusätzlichen Arbeits- und Materialaufwand oder „Tricks“ realisiert werden. Die Bilder 11, 12 und13 aus DIN 12195-1 und die zugehörigen Texte und Rechnungen zum „Umreifungszurren“ wären dann nicht zu verwirklichen.